Ethik beschäftigt sich mit Spannungsfeldern

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Die Digitalisierung verändert unseren Arbeitsalltag und genauso den unserer Kunden oder Schutzbefohlenen sowie deren Angehörigen. Mit diesen Veränderungen verschieben sich aber auch Verantwortlichkeiten, Machtgefüge, Mitbestimmungsmöglichkeiten und vieles mehr.

Immer, wenn solche Verschiebungen auftauchen, müssen wir uns neu mit verschiedenen Fragen auseinandersetzen: Wer gewinnt dadurch und was wird gewonnen? Wird jemand schlechter gestellt? Rechtfertigt der "Gewinn" die negativen Konsequenzen an anderer Stelle? Möchten wir das so haben?

Dabei wird schnell klar, es gibt keine allgemeine Antwort, denn häufig stehen sich verschiedene Werte gegenüber. Folgende Beispiele sollen dies verdeutlichen.

Sicherheit vs. Privatsphäre... und wer trägt die Verantwortung?

Immer mehr Angehörige beginnen Pflegebedürftige mittels Video-Kameras zuhause zu überwachen. Dies erhöht tatsächlich die Sicherheit der Pflegebedürftigen, denn im Notfall kann schneller und gezielter eingegriffen werden. In manchen Fällen stimmen die Pflegebedürftigen zu, in manchen können sie dies wegen kognitiver und rechtlicher Einschränkungen gar nicht mehr (weil sie zum Beispiel dement sind). Diese Überwachung stellt einen starken Eingriff in deren Privatsphäre dar. Ist dieser Eingriff aufgrund der erhöhten Sicherheit gerechtfertigt?

Im gleichen Beispiel kommt einmal am Tag die Sozialstation vorbei. Damit sind die Angestellten der Sozialstation ebenfalls auf den Videobildern zu sehen, obwohl diese nicht gesondert zugestimmt haben. Selbst bei einem entsprechenden Hinweisschild, dass es den Angestellten grundsätzlich ermöglichen würde den Videobildern zu entgehen: Sind sie dienstrechtlich verpflichtet sich trotzdem filmen zu lassen? Sind sie dazu moralisch verpflichtet?

Im gleichen Beispiel kann die Kamera durch Künstliche Intelligenz Stürze erkennen. Dadurch fühlt sich eine Angehörige nun nicht mehr dazu verpflichtet immer im Haus sein zu müssen. Was aber, wenn die Kamera einen Sturz nicht erkennt? Führt die Technologie dazu, dass Verantwortliche ihre Verantwortung nicht mehr wahrnehmen? Bzw. wer war in dieser Situation verantwortlich?

Selbstbestimmung und menschliche Nähe... und die Anderen?

Technologien können eingeschränkten Menschen wieder neue Möglichkeiten eröffnen selbstbestimmter zu leben. Sie können manche Tätigkeiten wieder alleine durchführen, welche zuvor nur mit Hilfe möglich waren (z.B. Fortbewegung, (Video-)Kommunikation, in den eigenen vier Wänden alt werden, - aber auch für Kinder: Bücher vorgelesen zu bekommen und vieles mehr). Zudem bietet der verstärkte Technologieeinsatz eine Möglichkeit, Betreuungskosten zu senken, denn das Personal muss für einen Videoanruf nicht mehr das komplette technische Setup bereitstellen und ggf. sogar dabei bleiben bis zum Schluss. Verloren geht dabei allerdings der persönlicher Kontakt, menschliche Interaktion und damit auch menschliche Nähe.

Wo ist nun der Punkt, an dem die Selbstbestimmung und Kostenvorteile sich mit der doch auch als Wert angesehenen menschlichen Nähe die Waage halten? Und wie müssen die Interessen derer abgebildet werden, um die sich zusätzlich gekümmert werden könnte, wenn hier viel Personal eingespart werden würde? Und was ist mit den Interessen der Angehörigen?

Mein Digitaler Zwilling... und seine Rechte?

Umso mehr unserer Daten wir einer Software preisgeben oder frei von uns digital verfügbar sind, umso besser kann sich die Technologie ein Bild von uns machen. Unser "digitaler Zwilling" ist also eine digitale Kopie von uns. Die Möglichkeiten sind groß: So könnte zum Beispiel das Rückfallrisiko für trockene Alkoholiker sehr spezifisch bestimmt werden. Oder die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kunde in einer Rehabilitationsmaßnahme eine begonnene Ausbidung wieder abbricht. Der Algorithmus prophezeit auf Basis meiner Vergangenheit meine Zukunft und gibt Hilfestellung für wirklich erfolgreiche Maßnahmen.

Aber was heißt das für unsere Privatsphäre? Was, wenn ich mich doch geändert habe und nicht mehr auf Basis meiner Vergangenheit bewertet werden möchte? Wird mir die Chance auf den "ersten Eindruck" genommen? Habe ich ein Recht auf digitales "vergessen werden"?

Versicherungen könnten auf Basis unserer Daten individuelle Tarife anbieten, die unser individuelles Risiko abbilden, das wir durch unsere Lebensführung verantworten und damit "faire" Angebote schaffen. Aber ist das auch solidarisch? Sollten nicht auch Personen mit "ungesünderem" Lebenstil von der Gesellschaft getragen werden - zumal es sich noch nicht um einen eingetreteten Fall, sondern nur um eine Wahrscheinlichkeit handelt?